Beitrag von Daniel Winkler
Wenn von Nothilfe gesprochen wird, denken wir in diesen Monaten an den Libanon oder an Menschen, die in der Corona-Krise unterstützt werden müssen, oder an Länder des Südens, die immer wieder von Dürrekatastrophen heimgesucht werden. Auch weggewiesene Asylsuchende erhalten in unserem Land Nothilfe. Wer einen negativen Asylentscheid erhalten hat und unser Land nicht verlässt, kann bei Bedürftigkeit Nothilfe beziehen, heisst es in behördlichen Medienmitteilungen. Dieses Wort suggeriert eine humanitäre Haltung und Hilfsbereitschaft. Der Begriff «Nothilfe» ist bei Asylsuchenden ein Euphemismus. In der Mehrheit der Fälle ist es die Beschönigung einer brutalen Realität. Hinter dem Wort steckt ein repressives Konzept, das sog. «Nothilfe-Regime». Es bedeutet: keine Arbeit, keine Ausbildungsmöglichkeit, illegaler Aufenthalt, ein Bett in einem Rückkehrzentrum und im Kanton Bern acht Franken für sämtliche Lebenskosten (Essen, Kleidung, Hygieneartikel usw.). Diese Zahl muss immer wieder genannt werden, da unsere Behörden ungenau kommunizieren. In einer Medienmitteilung der Sicherheitsdirektion des Kantons Bern vom 24.8.2020 heisst es fälschlicherweise: «In den Rückkehrzentren wird ihnen [den Weggewiesenen] bis zum Zeitpunkt der Ausreise der Zugang zu Verpflegung, Hygieneartikeln und Kleidung ermöglicht.» Bei dieser Aussage entsteht der völlig falsche Eindruck, die acht Franken pro Tag seien ein Taschengeld. Das Nothilfe-Regime wurde im Jahr 2008 als Resultat eines demokratischen Prozesses eingeführt. Es hat zum Ziel, massiven Druck auf Personen mit negativem Asylentscheid auszuüben, damit sie unser Land so schnell wie möglich wieder verlassen. Was aber, wenn das nicht gelingt? Die Verhältnisse haben sich seit 2008 geändert. Eine Mehrzahl der weggewiesenen Asylsuchenden lebt heute seit über einem Jahr in den Strukturen der Nothilfe, manche seit acht bis zehn Jahren. Vorgesehen wären ein paar Wochen oder wenige Monate. In der Schweiz gibt es inzwischen über 4‘000 Nothilfe-Langzeitbeziehende, im Kanton Bern etwa 350, und es werden kaum weniger. Lange unter den Bedingungen der Nothilfe zu leben, ist eine Form der Lebensvernichtung. Man verzweifelt, wird krank, hegt Suizidgedanken. Überproportional viele Frauen sind von diesem Schicksal betroffen. Es sind durch die Flucht häufig schwer traumatisierte Menschen, die hier in der Schweiz wieder Ausgrenzung und Demütigung erfahren. Weshalb kehren diese Menschen nicht in ihr Herkunftsland zurück? Es gibt eine Wechselwirkung zwischen den Langzeitfällen und den Verhältnissen in den Herkunftsländern: Wo Zwangsrückschaffungen nicht möglich sind, bestehen meist totalitäre Strukturen, die eine freiwillige Rückkehr enorm erschweren oder verunmöglichen (Eritrea, China, Iran usw.). Das Nothilfe-Regime wäre heute noch demokratisch legitimiert, wenn eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung sich damit einverstanden erklärte, dass Menschen über Jahre in den Strukturen der Nothilfe verelenden. Da es in unserem Land aber einen Grundanstand gibt, ist es schlecht vorstellbar, dass diese Situation dem mutmasslichen Willen unseres Volkes entspricht. Durch das Schönreden der Nothilfe wird unsere Gesellschaft in Unkenntnis über das prekäre Leid dieser Menschen gelassen. In behördlichen Mitteilungen wird zur Rechtfertigung des Nothilfe-Regimes gar die Bundesverfassung bemüht. Im Art. 12 heisst es: «… wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». In der Situation der Langzeitnothilfe von einem «menschenwürdigen Dasein» zu sprechen, ist ein Hohn. Das Nothilfe-Regime bedarf einer Überarbeitung und ist in der jetzigen Ausprägung kaum mehr demokratisch legitimiert! Porträts zweier Familien (seit Jahren unter dem Regime der Nothilfe) Von Seiten «riggi-asyl» und der «Aktionsgruppe Nothilfe» begleiten wir unter anderem zwei Familien, eine tibetische und eine eritreisch-äthiopische, die immerhin in einer privaten Unterbringung leben: · Etsegenet Adela, Solomon Shishai und ihr vierjähriger Sohn Abel: https://riggi-asyl.ch/wp-content/uploads/2020/09/2020-08-26-reformiert.-Rosetta-Bregy-beherbergt-abgew.-Asylsuchende.pdf · Pechu und Karma und ihre beiden Söhne Lhundup und Khetsun: https://riggi-asyl.ch/wp-content/uploads/2020/08/2020-08-12-Berner-Landbote-Pechu-u.Karma-In-der-Falle-Fliesstext.pdf Weiteres Referenzmaterial zum Nothilfe-Regime · Beitrag im Tibetfocus von Dagobert Onigkeit (Mitglied der Aktionsgruppe Nothilfe): https://riggi-asyl.ch/wp-content/uploads/2020/09/2020-09-01-Tibetfocus-Nothilfe-Regime.pdf · Gastbeitrag von Daniel Winkler in der NZZ am Sonntag «Lockdown für immer»: https://riggi-asyl.ch/wp-content/uploads/2020/08/2020-08-16-NZZ-am-Sonntag-Asylbewerber-im-endlosen-Lockdown.pdf · Gastbeitrag von Carsten Schmidt in der Bundzeitung zur Situation unserer grössten Flüchtlingsgruppe aus Eritrea: https://riggi-asyl.ch/wp-content/uploads/2020/08/2020-07-06-Der-Bund-Nicht-alle-die-muessen-koennen-zurueck-Carsten-Schmidt.pdf Eine Expertise zu den Nothilfe-Langzeitfällen von Alexander Ott, Leiter der Fremdenpolizei, Stadt Bern «Es gibt eine Gruppe von Menschen, bei denen klar ist, dass sie weder als Flüchtlinge noch als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz bleiben dürfen und die zur Ausreise verpflichtet sind. Darunter gibt es eine grössere Zahl von Personen, die aufgrund von Vollzugshindernissen und der Unmöglichkeit, Reisepapiere zu beschaffen, gar nicht ausreisen können. Diese Menschen und ihre Situationen sind im Asyl- und Ausländergesetz nicht vorgesehen. Sie werden von der Politik und von der Gesellschaft nach Möglichkeit ignoriert.» Eine für uns wichtige, ganz aktuelle Nachricht aus dem Kanton Bern Am 9. September 2020 hat der bernische Grosse Rat ein Zeichen für abgewiesene Asylsuchende gesetzt, die nicht ihr Herkunftsland zurückkehren können. Sie sollen die Nothilfe von acht Franken pro Tag auch dann erhalten, wenn sie privat untergebracht sind und nicht in Rückkehrzentren leben! https://riggi-asyl.ch/wp-content/uploads/2020/09/2020-09-09-Der-Bund-SDA-Grosser-Rat Daniel Winkler, «riggi-asyl» und Mitglied der «Aktionsgruppe Nothilfe»
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